Kann ich schon...

…die Winterjacke einmotten? Das war wohl die meistgestellte Frage an mich selbst in diesem inzwischen schon gar nicht mehr so jungen Jahr. Zusammen mit der täglichen Diskussion, ob es denn heute vielleicht die dünneren Handschuhe auch tun, war es das immer gleiche Ritual: Fenster auf, Durchzug machen, zwei Minuten warten. Wird mir kalt? Tja, dann muss es wohl doch noch einen Tag lang das Winteroutfit sein.

 

Und an den „noch einen Tag“ habe ich mich geklammert wie Beppo Straßenkehrer an seinen Besen beim Straßekehren. Er erklärte Momo in Michael Endes Buch ungefähr das: „Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich und jedes Mal, wenn man beim Fegen aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken. Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken.“ Dieser Gedanke begleitete mich schon als Jugendliche auf den Wanderungen, auf die ich damals so gar keine Lust hatte – immer bis zur nächsten Wurzel, immer bis zum nächsten Blatt. Und dieses Jahr war es der nächste Tag. Immer der nächste Tag, wo ich endlich die dicke Winterjacke ausziehen würde können.

die Kranichen kehren zurück
die Kranichen kehren zurück

Aber er kam einfach nicht. Nach dem nun doch langsam schmelzenden Winterwunderland Mitte Februar war ich guter Dinge, dass es nun bald wärmer werden würde. Und tatsächlich fast, denn es gab nur noch zwei Wochen bis zum kältesten Tag des Winters. Sie zogen sich, die Tage und Wochen, und ein Ende war einfach nicht in Sicht. Wenn es keinen Schnee gibt, finde ich Winter einfach blöd. Und er wollte einfach nicht weggehen. Also hörte ich weiter genervt Südwestrundfunk, wo sich der Wetterbericht täglich über den nächsten wärmsten Tag im Ländle freute, während hier weiter keine Besserung in Sicht war. Ich zwängte mich weiterhin mit doppeltem Pulli in meine dicke Winterjacke und in die Thermo-Handschuhe, und heulte weiter wenn mir der fiese Wind mal wieder beim Radfahren die Tränen in die Augen trieb – die man nicht mal auf den Wangen spürt, weil die so kalt sind, und dann wird man auch noch mitleidig von fremden Leuten angeschaut, die sich fragen, ob der Winter wirklich so schlimm ist, dass man nicht mal beim Radfahren aufhören kann, deswegen zu weinen.

Ostern in Mannheim
Ostern in Mannheim

Einen Lichtblick gab es: Ostern im Süden! 20 Grad schon kurz vor Ostern, sagte der Wetterbericht. Ich packte einen Rock und eine Dreiviertelhose und kurze Söckchen in meinen kleinen Trolli. Einen Tag vor meiner Abreise kam der Schock und ich packte alles wieder aus und packte neu in meine große Reisetasche, damit die ganzen langen Hosen, Pullis, Schals und Handschuhe passten – wohl doch kein Sommer über Ostern. Oh, was war die Trauer groß, als ich die Übergangsjacke zurück in den Schrank hängen musste und in dicker Winterjacke in den Zug steigen musste! Aber Mama versicherte mir „Stiefel brauchst du aber keine mitbringen.“ Also blieben die Stiefel daheim und zwei Tage später bereute ich das zutiefst. Es war Winter im Süden – auch wenn Papa noch versuchte, mich zu überzeugen, dass das weiße Zeug, das vom Himmel fiel, doch nur Blütenblätter waren…
Von schönen Spaziergängen mit den alten Freundinnen aus der Heimat konnte mich das Wetter zwar nicht ganz abhalten, aber wenigstens ein bisschen Sonnenschein über die Feiertage war doch eigentlich nicht zu viel verlangt.

Zweigeteiltes Wetter in Loissin
Zweigeteiltes Wetter in Loissin

Zurück im Norden dann zurück im gefühlt tiefsten Winter und zurück zu meinen arg vermissten Winterstiefeln. Und wieder fragte ich mich täglich „Kann ich sie nicht endlich einmotten?“ und wieder jubelte mir das Thermometer förmlich entgegen „Traust dich doch eh nicht!“
Also ging es halt in der Winterjacke mit Josi und Steffen an den Strand in Loissin, denn wenn man schon am Meer wohnt, muss einfach ab und zu mal Meerblick sein. Wir konnten die Schlechtwetterfront heran- und auch wieder abziehen sehen, das war ein kleines Spektakel und fast allein am Strand auch irgendwie ganz nett. Kurz nach Ostern wurde wenigstens das Wetter ein bisschen netter, der ganz fiese Wind ließ nach und während einer Feierabend-Ryck-Runde mit Steffen zeigte sich endlich mal der Otter, so richtig live und nicht nur anhand von Spuren im Schnee. Immerhin eine kleine Alltagsfreude, die mich kurz vergessen ließ, dass ich immer noch die dicke Winterjacke anhatte.

Abendstimmung in Ludwigsburg
Abendstimmung in Ludwigsburg

Ende April holte mich Anne eines Abends ab für einen Sonnenuntergangsbummel am Ludwigsburger Strand entlang. Das war der erste Tag, wo ich drüber nachdachte, den Reißverschluss an meiner Jacke mal bis ganz unten aufzumachen. Aber der Gedanke, auch den Schal abzulegen, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Belohnt wurden wir für unsere eiserne Entschlossenheit, den aufkommenden Wind zu ignorieren und noch ein kleines bisschen länger am Strand auszuhalten, mit einem brillant-orangenen Blutmond über den Feldern. Wenigstens was.
In der dicken Winterjacke wanderten (darf man wandern sagen bei 9 Höhenmetern?) wir 20 Kilometer an die Mini-Steilküste von Wampen und zurück, wo man endlich ganz leicht die erste richtig wärmende Frühlingssonne erahnen konnte. 

ab in die Sommerfrische auf Koos!
ab in die Sommerfrische auf Koos!

Und dann kam es endlich: das zweite Wochenende im Mai! Und mit ihm kamen sonntags stolze 27,9 Grad und Sonne pur! Fairerweise muss man sagen, dass 27,9 Grad hier im Norden sich meistens nicht wie 27,9 Grad anfühlen, denn der Wind ist meist eher frisch und nimmt üblicherweise ein paar gefühlte Grad weg. Trotzdem schwangen Anne, Nina und ich uns Samstag schon bei da noch nicht ganz 20 Grad auf unsere Räder und drehten eine 40-Kilometer-Runde zur Insel Koos, weiter nach Riems und zurück nach Greifswald – und sogar ganz ohne Jacke! Wir saßen mit hochgekrempelten Ärmeln (kurzärmlig ging leider immer noch nicht) und Hosenbeinen an der Holzbrücke, die schon seit dem zweiten Weltkrieg das Festland mit der Insel Koos verbindet und deren Planken bei jedem Überfahren mehrere Zentimeter hoch hüpfen. Aber unsere Sorgen mit dem Rad waren unbegründet, denn kurz drauf kamen die Kooser Kühe von ihren Winterweiden zurück – und wenn ein Traktor mit einem Dutzend Kühe hinten drauf mit vollem Karacho über die Brücke brettert, wird sie uns mit unseren Rädern wohl auch noch halten.

Mini-Steilküste in Wampen mit Blick Richtung Riems
Mini-Steilküste in Wampen mit Blick Richtung Riems

Hinter der Brücke kommt man nur ein paar hundert Meter weit, wenn man keine Kooser Kuh ist oder einer von drei Wissenschaftlern, die dort hinter einem verschlossenen Gatter wohnen und die Vogelpopulation im Schutzgebiet der Insel beobachten. Die Insel gibt es schon ziemlich lang, sie ist geschichtlich für die Region auch nicht unwichtig, denn im sogenannten Wampener Riff direkt der Insel vorgelagert ereignete sich im 12. Jahrhundert eine Seeschlacht, in deren Folge ganz Pommern dänisch wurde. Viel später wurde die Insel von Bauern als Weidegebiet, dann von der Luftwaffe als Übungsgebiet, dann von einem Forschungsinstitut für Tierseuchen-Versuche genutzt, und seit 30 Jahren ist die gesamte Insel Vogelschutzgebiet und für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Der Weg bis zur Brücke ist aber auch schon schön genug, man fährt über einen kleinen Deich durch sumpfige Salzwiesen und ohne nennenswerte Erhebungen kann man in alle Richtungen bis zum Horizont schauen.

Goldenes Ufergras am Ryck
Goldenes Ufergras am Ryck

Das zweite Sperrgebiet und zweite Greifswalder Exklave musste dann natürlich im Anschluss auch noch sein, also ging es weiter nach Riems, wo Nina und Anne noch nie waren. Hier wird heute an Tierseuchen geforscht (die Insel wird auch die Seuchen-Insel genannt), also darf man in viele Bereiche der Insel gar nicht oder nur ohne Haustiere. Das war ein schöner Ausflug, muss ich schon sagen. Und Montag setzte die Sonne dann noch einen drauf, verbannte den Wind praktisch komplett und erlaubte nach Feierabend anderthalb Stunden mit Buch auf einer Bank am Ryck – mit kurzen Ärmeln und barfuß! Der ganze kalendarische Frühling (und gefühlte Spätwinter) war also wenigstens gefüllt mit schönen Erlebnissen, auch wenn das allerschönste wohl der Tag war, an dem ich endlich (ENDLICH!) die dick gefütterte Winterjacke in meine aufklappbare Bank im Schlafzimmer packen konnte! Auf dass ich sie erst wieder in frühestens sechs Monaten aufmachen muss!

 

PS: Wer sich dafür näher interessiert, hier ein spannender Link zur Arbeit des Riemser Instituts: https://www.tagesspiegel.de/wissen/ostsee-riems-die-seuchen-insel/1951512.html

 

 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Michael aus Fulda (Montag, 17 Mai 2021 17:38)

    Du bist nicht allein mit Deinem Kummer über den ausbleibenden Frühling. Schon seit mehreren Hundert Jahren sehnt man ihn am Ende des Winters herbei und hat ihn, als er dann endlich erschien, freudig besungen.
    Das Lied „Zefiro torna“ von Claudio Monteverdi ist pure Lebensfreude über seine Wiederkehr.
    Zephir ist der antike warme Westwind und wurde als Frühlingsbote verehrt. Das Lied handelt davon, dass die linden Lüfte die Welt lieblich schön machen, der Bach unter dem grünen Laub der Bäume murmelt, die Blumen auf der Wiese zum schönen Klang tanzen und Phyllis und Clori girlandenbekränzt heitere Liebesweisen intonieren.
    „Schöner erhebt sich am Himmel Aurora, und auch die Sonne ergießt mehr ihr goldenes Licht, und mehr reines Silber ziert Tethys’ schönen Mantel im Blau des Himmels.“ In dieser Idylle leidet der Dichter unter Liebeskummer
    (von 4:45 – 6:00 Minuten) und findet danach wieder Trost im Gesang.
    „Nur ich bin allein in verlassenen, einsamen Wäldern, gequält von der Glut eines lieblichen Augenpaares; wie es mein Los gerad will, weine wechselnd ich und singe.“
    MONTEVERDI Zefiro torna feat. Amy Broadbent and Kellie Motter - April 2014
    https://www.youtube.com/watch?v=YAtUQQ3npBY