Urlaubsreif

Kaum ist man angekommen im neuen Job auf dem alten Schiff, da sind vier Monate auch schon wieder rum. Irgendwie ist es ja immer das gleiche: im Urlaub ist man unglaublich unmotiviert, wieder aufzusteigen, und wenn man dann erstmal wieder an Bord ist, fällt es schwer, wieder heim zu fahren. Mein sehr nettes Scout-Team machte es mir leicht, mich gleich wieder wie zu Hause zu fühlen, aber nach drei Monaten wechselte ein Großteil meines Teams und dann wurde es irgendwann auch wieder Zeit für Urlaub.

fast schon zu bunt um wahr zu sein - Schloss Kadriorg, Tallinn
fast schon zu bunt um wahr zu sein - Schloss Kadriorg, Tallinn

Ich hätte erwartet, dass ich abends nicht mehr so platt wäre, jetzt wo ich tagsüber nicht mehr stundenlang Gäste bespaßen und die Welt sehen muss. Aber die Zeit im Büro kann schon auch ganz schön schlauchen und vor allem die mehreren Stunden, die ich an Hafentagen immer auf der Pier rumstehe, machen dann doch wieder etwas müde. Der Urlaub war also sehr willkommen, als er Mitte September näher rückte. Weil man sich auf so einer Route doch recht schnell einfindet und Arbeiten irgendwann schneller erledigt bekommt, wenn man erstmal in der Materie ist, war tatsächlich auch nochmal Zeit für ein paar kleine Ausflüge. In Tallinn übergab ich die Nachmittags-Abwicklungen auf der Pier einer fähigen Kollegin, schmiss mich aus meiner Uniform und in Jeans und Jacke und dann nahm Micha mich mit zum Scuddy-Fahren. Scuddys sind seltsame Gefährte, die am ehesten an eine Kreuzung aus E-Roller und alte-Leute-Mobil erinnern. Sie sind ganz wabbelig und wenn man nicht in Fahrt ist, fällt man einfach zur Seite um, ähnlich wie beim Fahrrad. Trotzdem gibt es drei Räder, die vorderen etwas weiter auseinander und hinten eins in der Mitte. Dazu einen Sattel, auf dem man sitzt oder es sein lässt, denn man kann auch im Stehen fahren. Wenn man drauf sitzt, sieht es für alle Umstehenden extrem witzig aus und man fühlt sich ziemlich lächerlich, weil es sich anfühlt, wie auf dem Klo zu sitzen.

nein, weder Klo noch Renter-Mobil...
nein, weder Klo noch Renter-Mobil...

Unsere Gäste dürfen Ausflüge mit den Scuddys nur in Begleitung eines Fahrrad-Guides machen, denn man braucht schon einen gewissen Gleichgewichtssinn, sollte lieber nicht eine Hand vom Lenker nehmen beim Fahren und muss sich erstmal dran gewöhnen, mit den Händen Gas zu geben und zu bremsen. Wenn man über den ersten Schock hinweg ist, ist das Ganze aber doch eine richtig witzige Angelegenheit. Die Scuddys fahren über 20 Stundenkilometer schnell und ohne Helm hätte ich mich definitiv nicht wirklich sicher gefühlt. Weil in Tallinn nur wenige so ein Ding schon mal gesehen haben, gibt es kaum Probleme auf der Straße: alle bleiben stehen um zu glotzen und wir konnten einfach weiter flitzen. Tatsächlich hatte ich auf der Ostsee-Route als Scout nicht so viele Ausflüge gemacht, sodass ich noch nie den Kadriorg-Palast oder das Maarjamäe Weltkriegs-Denkmal gesehen hatte, was bei fast allen Bus-Ausflügen dabei ist. Ein paar Stündchen wurschtelten wir uns also durch den estnischen Verkehr und die Altstadt und mal wieder wirkten ein paar Stündchen fast schon wie eine Woche Urlaub.

ein ungewöhnliches und spektakuläres Naturschauspiel über der Ostsee erwischt: leuchtende Nachtwolken
ein ungewöhnliches und spektakuläres Naturschauspiel über der Ostsee erwischt: leuchtende Nachtwolken

In meiner letzten Woche an Bord wollte ich unbedingt noch einen Ausflug in Helsinki und Stockholm machen, weil ich dort bisher sogar noch weniger gesehen habe als in Tallinn. Die Ablöse für meine Tourmanager-Position kam in der Woche und so hatte ich sogar jemanden, der meinen Job auf der Pier übernehmen konnte. Blöd nur, dass das Wetter in der Ostsee zum Herbst hin doch manchmal unberechenbar ist. Mittwoch morgens lagen wir vor der Küste und sahen die Helsinkier Pier schon direkt vor uns, während es auf der Bugkamera aber wirkte, als würden wir uns überhaupt nicht darauf zu bewegen. Und dann der Anruf des Kapitäns: der Wind war so stark, dass die Brücke noch nicht sicher war, ob wir überhaupt anlegen können würden. Es ist natürlich für unsere Gäste immer doof, wenn ein Hafen ausfallen muss, aber nichts ist schlimmer, als den Anleger schon zu sehen und dann umzudrehen und gesagt zu bekommen „Ätsch, doch nicht!“
Herr Kapitän und seine Truppe auf Deck 14 setzten dann aber doch nochmal alle Hebel in Gang und mit voller Kraft voraus und drei (!) Schleppern erreichten wir mit anderthalb Stunden Verspätung dann doch noch die Pier. Dann war natürlich keine Frage, dass ich im Hafen blieb und nicht mit auf Ausflug ging. Das ist dann eben meine Verantwortung, dass die Gäste sich gut betreut fühlen und ich auch für mein Team ansprechbar bin an so einem Tag. Die Liegezeit wurde entsprechend um anderthalb Stunden verlängert und kaum waren alle Gäste um 18 Uhr an Bord kam die Kapitäns-Durchsage, die mir auch meinen geplanten Ausflug in Stockholm am nächsten Tag vermieste: immer noch so starker Wind, dass wir die Pier vermutlich nicht sicher verlassen und außerdem am nächsten Tag höchst wahrscheinlich sowieso nicht in Nynäshamn vor Stockholm einlaufen könnten. Also unplanmäßig eine Übernachtung im Helsinkier Hafen.

Königstor auf Suomenlinna, Helsinki
Königstor auf Suomenlinna, Helsinki

Wie vorauszusehen schoben wir ein paar Überstunden am Abend, um einen Shuttle-Bus und ein paar Ausflüge für den nächsten Tag organisiert zu bekommen – währenddessen natürlich permanent die Gästebeschwerden, dass wir das doch alles so geplant hätten und nie nach Stockholm fahren wollten und „außerdem bin ich Pilot und habe mir die Karten angeschaut und so stark ist der Wind doch gar nicht“. Jaja, das übliche halt. Weil für den zweiten Tag nur drei Ausflüge möglich waren, die alle gleich morgens im strömenden Regen starten mussten, waren ab 11 Uhr alle Gäste und das Team versorgt und Micha nahm mich mit raus, damit ich wenigstens doch noch einen meiner Ausflüge machen könnte. Zwar kamen wir an keinen der Orte, die ich eigentlich hatte sehen wollen, aber mit der Fähre ging es aus der Innenstadt zu einer kleinen Insel namens Suomenlinna, die Helsinki vorgelagert ist und früher mal als Befestigungs- und Schutzanlage für die Stadt fungierte. Ganz alte Gemäuer stehen da einfach so rum und trotzen noch heute wie schon 1748 den Wellen und dem Wind vor der Küste. Seit den 1970ern ist die Festung keine militärische Anlage mehr, sondern als UNESCO-Kulturerbe eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Region. Eigentlich waren der strömende Regen und der eisige Wind also ganz praktisch, denn wir gehörten zu den einzigen, die an so einem Tag freiwillig dort spazieren gingen.

 

Alles in allem also doch eine sehr schöne Abschlusswoche auf AIDAprima und der Auftakt in zweieinhalb Monate Urlaub in der Heimat bevor es Anfang Dezember auf das neueste Schiff der Flotte AIDAnova und damit auf die Kanaren geht. Bis dahin – wir lesen uns :)

 

 

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Michael aus Fulda (Montag, 25 November 2019 13:01)

    Du solltest in Deinem wohlverdienten Urlaub einfach mal nichts tun, so wie die „Frau im Cafe“, die Antonio Donghi 1931 im Stil des Realismo Magico (Magischer Realismus) gemalt hat.
    https://en.wikipedia.org/wiki/Woman_at_the_Caf%C3%A9
    Der Stil wird in Deutschland Neue Sachlichkeit genannt.
    Neue Sachlichkeit: https://artinwords.de/neue-sachlichkeit/
    „Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs veränderte die Sicht auf die Welt und den Menschen radikal. Zutiefst erschüttert, distanzierten sich viele Künstler von den formalen Experimenten der Avantgarde wie Kubismus, Expressionismus und den verschiedenen Richtungen der Abstraktion (→ Abstrakte Kunst) und konzentrierten sich auf eine nüchtern-realistische Wiedergabe der Wirklichkeit. Gemeinsam ist ihnen eine figurative Malerei; sie zeugt von einer mannigfaltigen und kritischen Auseinandersetzung mit dieser von Brüchen geprägten Zeit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.“
    Rita und ich wünschen Dir einen erholsamen Urlaub, damit Du frisch und ausgeruht voller Elan die nächste Tour beginnen kannst.

  • #2

    Michael aus Fulda (Sonntag, 15 Dezember 2019 12:06)

    Vielleicht sollte ich noch begründen, warum mir das Bild so gut gefällt. Eine fachlich korrekte Interpretation kann ich jedoch nicht geben, weil ich das nicht studiert habe. Aber die Beschäftigung mit Kunst eröffnet einem eine andere Welt, die auch für Laien interessant ist.
    Der Maler beschränkt sich auf das Wesentliche und lässt alles Dekorative weg. Der Kontrast zwischen den geraden Linien von Tisch und Vitrine und den geschwungenen Linien der sitzenden Frau stellt eine eigentümliche Spannung her. Auch die Haltung der Frau ist voller Spannung, denn einerseits sitzt sie aufrecht auf dem Stuhl, aber seitlich so gedreht, dass der Rücken unvollständig von der Stuhllehne gestützt wird und sie sich mit dem linken Arm an ihr festhalten muss. Mit den ineinander gelegten Händen bilden Arme und Schulter einen geschlossenen Ruhe ausstrahlenden Kreis. Das Kleid ist schlicht und einfarbig dunkelgrün. Alle Farben sind getönt und warm. Die Frau sitzt mittig im Bild, der Kopf ist etwas zur Seite gedreht, ihr Blick ist nachdenklich und konzentriert.
    Soweit die reine Bildbeschreibung. Eine tiefer gehende Deutung mit Bezug auf die damalige Zeit Italiens nach der Weltwirtschaftskrise im Faschismus traue ich mir nicht zu.
    Zur weiteren Abhandlung gehört die Einordnung des Bildes in das Gesamtwerk des Malers, sein Lebenslauf, seine künstlerische Entwicklung und die kunstgeschichtliche Bewertung. Für heute soll es aber genug sein, denn Opa muss eine Pause machen.