Besuch in der Pommesbude

Als Offizier mit silbernen Pommes auf der Schulter muss man manchmal noch arbeiten wenn andere schon im Feierabend sind. Oder naja, man muss vielleicht nicht zwingend, aber ich schließe gerne ab, was ich den Tag über angefangen hab und da ich eh nicht so ein riesiger (wenn ich drüber nachdenke, nicht mal ein kleiner) Partygänger bin, stört mich das nicht allzu sehr, wenn ich die beliebtesten Partys der Reise verpasse – vor allem, weil es sie eh jede Woche wieder aufs Neue gibt. Auf die Black-and-White-Party kann ich gerne verzichten, aber wenn im skandinavischen Frühherbst die Tropical Beach Party ansteht, lasse ich den Schreibtisch dann doch auch mal etwas früher allein und lasse mich oben im Beach Club blicken.

Sonnenaufgang vor Stockholm
Sonnenaufgang vor Stockholm

Das ist ein großer Vorteil, den der neue Job so mit sich bringt: ich darf selbst entscheiden, ob ich mich in Uniform oder in Privatkleidung im Gästebereich aufhalte. Ich verpenne zum Beispiel regelmäßig das Abendessen, das es in der Messe nur bis halb 9 abends gibt, weil ich kein Tageslicht habe und einfach nicht aufpasse. Aber ich muss mir keinen Stress mehr machen, weil ich direkt vom Büro aus ins Brauhaus oder in eins der anderen Restaurants darf und egal wie voll es ist, mit so einer schicken Uniform mit Pommes versuchen die Maîtres es immer irgendwie möglich zu machen, dass ich einen Platz bekomme. Nächster großer Vorteil: mit meiner großen Einzelkabine und einem Bett, in das auch zwei passen und zusätzlich auch noch einer Couch, auf der man jemanden schlafen lassen könnte, wenn das Bett doch zu klein wird, ist es mir erlaubt, Angehörige ersten Grades an Bord einzuladen. Das gab es noch nie in meiner AIDA-Karriere und die zehn Minuten, wo Mama und Papa mal in meine Kabine durften, um Oma an Ostern anzurufen, waren das einzige Mal, dass ein Angehöriger von mir wirklich einen Fuß in den Crewbereich setzen durfte.

Eine der größten und höchsten Kuppeln der Welt - Isaakskathedrale, St. Petersburg
Eine der größten und höchsten Kuppeln der Welt - Isaakskathedrale, St. Petersburg

Um die neue Position so richtig auszunutzen, musste die Verwandtschaft also her und das tat sie Ende Juli. Da in meiner Kabine nur zwei Personen wohnen dürfen (das hängt mit der Anzahl der Rettungsmittel etc. zusammen), durften Mama und Papa nicht gleichzeitig kommen, auch was neues für sie, einfach mal getrennt voneinander den praktisch gleichen Urlaub zu machen. Papa kam zuerst und wurde ziemlich schnell von meinen Scouts als einer von ihnen akzeptiert. Ich fühlte mich fast ein bisschen in der Zeit zurück versetzt, denn Papa saß genauso gebannt vor der offenen Wand auf Deck 5 wie ich vor drei Jahren, weil es einfach so atemberaubend ist, zum ersten Mal den Sonnenuntergang über dem Meer mit Meeresrauschen untermalt zu bestaunen. Nachdem er an Tag 3 seines Aufenthaltes sogar ohne Wegbeschreibung meine Uniform zur Wäscherei gebracht hatte und abends von einer neuaufgestiegenen Kollegin gefragt wurde, ob er einer der Schiffsärzte sei, war er wirklich angekommen und ich glaube, er hätte es auch noch länger bei mir ausgehalten.
Mama kam zwei Wochen drauf, auch für eine Woche und auch für die Ostsee, wo sie alle Ziele schon kannte außer St. Petersburg.

in Russland werden sogar die Fußgänger auf ihre richtige "Fahrbahn" gedrängt (und es funktioniert!)
in Russland werden sogar die Fußgänger auf ihre richtige "Fahrbahn" gedrängt (und es funktioniert!)

Ich hatte schon öfters Besuch an Bord, aber immer nur als richtige Gäste. Plötzlich jemanden von daheim im Crewbereich zu sehen, ist eine ganz neue und komische Erfahrung. Kein Wunder, dass Papa jeden Tag von mehreren Kollegen angesprochen wurde, ob er Hilfe brauche – denn das ist schließlich Regel, wenn man einen Gast im Crewbereich sieht: sofort dafür sorgen, dass er zurück findet. Aber solange man eine Crewkarte vorzuzeigen hat, hat man auch Berechtigung, dort zu sein, und die bekommt jeder, der im Crewbereich zu Besuch ist. Weil sich alle immer richtig doll freuen, wenn jemand im Team Besuch aus der Heimat bekommt, nehmen alle auch immer richtig doll Rücksicht, wenn man mal ein bisschen mehr Arbeit abgibt oder abends ein bisschen früher verschwindet, um mit der Verwandtschaft essen zu gehen.
Weil ich so dicke bin mit unseren Ausflugsagenturen, konnte ich ohne größere Probleme einen Extraplatz im Ausflugsbus organisieren und meine Eltern konnten auch was anschauen, wenn sie schon mal da waren.

Isaakskathedrale - die Kuppel von unten
Isaakskathedrale - die Kuppel von unten

Besonders wichtig war es für beide, St. Petersburg zu sehen. Es kann richtig kompliziert sein, ein Visum für Russland zu bekommen und bis die Gesetzesänderungen nächstes Jahr durch sind, ist ein Landgang dort nur möglich, wenn man einen vorab gebuchten Ausflug wahrnimmt und mit dem Ticket ein sogenanntes Gruppenvisum bekommt. So kommt es, dass in St. Petersburg mindestens 85% unserer Gäste einen Ausflug bei uns buchen, weitere 10% sich extern bei einem anderen Anbieter etwas suchen und die restlichen 5% entweder St. Petersburg schon kennen oder keinen Reisepass dabei haben, weil sie dachten, dass Russland zur EU gehört. Die europäische Crew darf mit Reisepass und Seefahrerausweis an Land gehen, aber wirklich viel ist um den Hafen herum nicht, sodass sich der Landgang nur lohnt, wenn man mindestens vier Stunden frei hat. Tage wie diese sind also ideal, um zur Massage in den Spa-Bereich zu gehen, mit durchschnittlich maximal 150 Gästen an Bord fühlt sich das Schiff an wie ausgestorben, ein Traum.

Newa und Neustadt Petersburg von der Isaakskuppel aus (im Hintergrund das höchste Gebäude Europas, der Gazprom-Turm)
Newa und Neustadt Petersburg von der Isaakskuppel aus (im Hintergrund das höchste Gebäude Europas, der Gazprom-Turm)

Mit fast 4.000 Gästen auf Ausflug ist die Organisation der Touren entsprechend ein logistisches Meisterwerk, was unsere Agentur uns jede Woche auf die Beine stellt. Siebenundachtzig (!) Busse brauchten wir in den Sommerferien fast bei jedem Anlauf in St. Petersburg, wovon allein vierundzwanzig morgens zum Katharinenpalast fuhren, der in Pushkin liegt, also außerhalb der Innenstadt. 24 Busse à 42 Gäste macht über 1.000 Gäste, die innerhalb von anderthalb Stunden dort ankommen – und das ist nur von AIDA! In der Hochsaison kam es regelmäßig vor, dass wir mit anderen Schiffen im Hafen lagen, am vollsten Tag mit sechs anderen. Stellt euch nur mal die Massen an Menschen vor, die sich durch die Stadt und durch die Paläste drängeln!

Palastplatz mit Generalstabsgebäude, Alexandersäule und Sommerpalast der Eremitage
Palastplatz mit Generalstabsgebäude, Alexandersäule und Sommerpalast der Eremitage

Ich wollte ungern, dass meine Eltern irgendwo unnötig Zeit vertrödeln, weil irgendjemand aus ihrer Reisegruppe verloren ging – tatsächlich gab es keine einzige Woche, in der ich nicht einen Anruf bekam mit der Info, dass jemand in der Eremitage oder vor der Blutkirche oder im Peterhof-Palast den Anschluss an seine Gruppe verloren hätte. Also organisierte ich beiden jeweils ein privates Fahrzeug mit eigenem Fahrer und deutschsprachigem Reiseleiter, damit sie in neun Stunden so viel wie möglich von der Stadt mitnehmen konnten. Weil Chef Lennart St. Petersburg in- und auswendig kennt und Micha auf gar keinen Fall einen Ausflug machen wollte, durfte ich für beide Eltern je einen halben Tag frei machen, sie sammelten mich nach der morgendlichen Busverteilung am Hafen ein und dann ging es in die Innenstadt, die ich zwar schon ein-zwei Mal gesehen, aber nie so wirklich genossen hatte. Es ist eben doch was anderes, wenn man permanent auf 40 Gäste achten muss, die alle die Kamera vor der Nase haben und nicht drauf achten, wo es lang geht. Dann nebenher auch noch übersetzen und schwupps, ist das Kennenlernen einer neuen Stadt auch schon wieder stressig bis zum Gehtnichtmehr.

Newsky-Prospekt
Newsky-Prospekt

Was man zu zweit mit einem ortskundigen Reiseleiter und einem kompetenten Fahrer alles schaffen kann, wenn man nur einen halben Tag hat, ist erstaunlich. Die Kuppel Isaakskathedrale bestiegen wir und hatten einen grandiosen Blick über die ganze Stadt. Die Eremitage ist ein riesiges Viereck in der Ansicht von oben, der Winterpalast allein erstreckt sich über einen kompletten Block. Die Newa schlängelt sich dazwischen, nur die Kanäle sieht man von oben nicht. Dafür ging es per Boot einmal durch die Stadt und zu Fuß über die Hauptstraße Newski-Prospekt, denn der Verkehr ist echt krass und man kommt so viel schneller voran, wenn man auf die Straßen verzichtet. Mit Mama hatte ich sogar Zeit, zwei Stationen mit der U-Bahn zu fahren, die hat das tiefste U-Bahnnetz der Welt mit der tiefsten Station 86 Meter unter der Straße. Die Rolltreppen, die da runter fahren, brauchen Minuten, und die Stationen sind sehr hübsch mit Marmorsäulen und Mosaikgemälden.

Blutkirche
Blutkirche

St. Petersburg ist insgesamt recht europäisch. Das einzige Stück wirklich typisch russischer Architektur ist die Blutkirche und deren höchster Turm wird leider immer noch restauriert und ist eingepackt. Man hat zwischendurch mal einzelne Zwiebeltürmchen, aber weitestgehend sieht es in der Stadt aus wie in anderen Großstädten Europas. Früher war auf einem Ufer der Newa die Stadt, am anderen Ufer war nur Wald und Wildnis. Wer seinen Palast in der Stadt hatte, hat sich irgendwann einen Sommerpalast auf der anderen Newa-Seite bauen lassen und deswegen sind inzwischen beide Ufer gesäumt von wunderschönen alten Villen und Palästen. Die UNESCO hat die gesamte Innenstadt St. Petersburgs zum Weltkulturerbe erklärt aufgrund der unglaublichen Dichte an prunkvoller Architektur. Der größte Palast am Ufer ist natürlich der Sommerpalast, das Hauptgebäude der Eremitage, die wiederum ist nach dem Louvre in Paris das zweitgrößte Museum der Welt. Es war Katharina die Große, die 1764 ihre ersten Gemälde kaufte und in einer privaten Galerie ausstellte. Sie war so besessen von dem Ausbau ihrer Sammlung, dass bald neue Gebäude hinzugebaut werden mussten, damit alles untergebracht werden konnte. Heute sind es fünf Hauptgebäude, die alle unterirdisch miteinander verbunden sind und die in mehr als 300 Räumen um die 60.000 Kunstwerke zeigen. Es sind nochmal um die drei Millionen weitere Stücke, die eingelagert sind, weil man einfach nicht so viel ausstellen kann. Die Reiseleiter erzählen uns heute, dass man etwa 10 Jahre bräuchte, um die gesamte Eremitage anzuschauen.

Stockholms Altstadt
Stockholms Altstadt

Ein bisschen hoffe ich, dass die neuen Gesetze zur Einreise in Russland bald in Kraft treten, denn wenn allein St. Petersburg so viel zu bieten hat, wie ist es dann im Rest dieses riesigen Landes? Moskau soll besonders schön sein, denn da hat man wirkliche russische Architektur mit Zwiebeltürmen an jeder Ecke. Vielleicht beim nächsten Mal…
Insgesamt war der Besuch in meiner Pommesbude definitiv etwas besonderes. Wer hätte das gedacht, dass meine Eltern auch mal das Crewleben so richtig aus erster Hand erleben können. Und vor allem Dank einem lieben Team, das so viel Rücksicht nahm und auch mal etwas länger im Büro blieb, damit ich im Gästebereich essen gehen oder einfach mal einen ganzen halben Tag lang frei machen konnte.

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Anne (Freitag, 01 November 2019 16:41)

    will ja nicht päpstlicher sei als derselbe, aber der Durchmesser der Kuppel der Isaak-Kathedrale ist 26 m. Die Hauptkuppel des Petersdoms hat 42 m Durchmesser und auch die in Florenz ist so groß. Es gibt noch eine ganze Reihe größerer Kirchenkuppeln, selbst die der Hagia Sophia mit 33 m gebaut 537! Wahnsinn oder?
    Es lebe Wikipedia.

  • #2

    Michael aus Fulda (Dienstag, 05 November 2019 18:44)

    Die Oper Pique-Dame von Peter Tschaikowsky spielt in Petersburg und als Lisa sehr verzweifelt ist,
    geht sie in der Nacht an den Newakai.

    Asmik Grigorian - Tchaikovsky - The Queen of Spades - Liza's aria
    https://www.youtube.com/watch?v=KYvHkdruT-s