Ich bin eine absolute Niete im scharfes-Essen-essen und breche regelmäßig in Tränen aus, wenn ich nicht entsprechend vor dem Probierhäppchen gewarnt werde. Wenn also der Großteil meiner Kollegen auf die Frage, worauf wir uns in Indien am meisten freuen, antwortet „das indische Essen“, schließe ich mich da nicht an. Mir werden schon die Augen wässrig, wenn ich abends in der Messe nur an der Asien-Ecke des Büffets vorbei gehe und die Luft anhalte. Ich freute mich tatsächlich besonders auf den Verkehr in Indien – und ich wurde nicht enttäuscht.
Generell scheint in Indien zu gelten, dass man immer zwei Spuren mehr aufmachen kann als eingezeichnet sind. Jeder fährt, wie er grade lustig ist und auf LKWs steht hintendrauf sogar die Bitte, dass man doch gerne hupen soll. Warum genau, hat sich mir nicht erschlossen, denn man hupt hier eh dauernd. Jeder unserer Ausflugsbusse hatte allein drei oder mehr verschiedene Hupen. Das haben wir gesehen, wenn die auf der Pier in der Hitze standen und alle die Motorhauben aufgeklappt hatten, damit drinnen nicht alles überhitzt. Kein Wunder, denn das Kühlwasser kam bei den meisten unserer Busse aus einer Plastikflasche, die mehr schlecht als recht mit verbogenen Kleiderbügeln oder Drähten an das vorhandene Metall gebaumelt oder irgendwo dazwischen geklemmt wurde.
Auf der Straße tümmeln sich außer LKWs auch noch normale Autos (in allen denkbaren Graden von durchgerostet), viele viele Motorroller und hunderte Tuktuks. Letztere allerdings nur in den Städten;
in Cochin zum Beispiel konnte man vor lauter Tuktuks fast gar nichts mehr sehen und die kamen immer plötzlich genau aus der Richtung, in die man grade nicht geschaut hat. Auf die muss man
wirklich aufpassen, damit sie einen nicht von der Straße fegen, denn sie sind zwar nicht sonderlich schnell, aber extrem wendig und klein, sodass sie auch durch die noch so engen Gassen und um
noch so enge Kurven passen. Dass es da nicht öfters knallt, ist sehr überraschend, aber wenn alle drauf eingestellt sind, dass was passieren könnte, passiert halt irgendwie weniger. Mit einem
Tuktuk mitfahren durfte ich leider nicht, also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als nochmal nach Indien zu kommen.
Alleine würde Indien glaube ich nicht zu meinen Wunschzielen gehören, da wünscht man sich doch vielleicht Gesellschaft. Aber sicher habe ich mich eigentlich immer gefühlt, wo ich unterwegs war.
Natürlich wird man komisch angeschaut, vor allem wenn es ein bisschen mehr ins Hinterland geht, wo besonders die Kinder teilweise wohl noch nie einen so weißen Menschen live gesehen haben. Ich
bin ja nun auch noch nicht allzu lang an Bord und habe noch nicht so viel Farbe bekommen, dass ich im Team zu den hellhäutigsten gehöre. Als ich so freundlich war, einer Familie anzubieten, ein
Foto von ihnen zu machen, haben sie sich also gleich alle auf mich gestürzt um Selfies mit mir zu machen. Ein bisschen war ich froh, dass ich die Sonnenbrille aufhatte, sonst wären die
wahrscheinlich umgekippt vor Faszination ob meiner blauen Augen.
Aber zurück zum Verkehr. Unser Reiseleiter erklärte uns, dass die Inder offiziell einen Führerschein brauchen, wenn sie Autofahren möchten. Oder Motorrad. Oder Tuktuk. Offiziell. In Goa sagt man
„Wer drei Monate ohne Führerschein fährt und immer noch lebt, braucht auch keinen Führerschein mehr“. Allgemein braucht man nur drei Dinge, um auf Indiens Straßen zu überleben: „Good brakes, good
horn, good luck“.
Wo das Glück aber richtig groß sein muss, ist wenn eine Kuh im Weg steht. Dann muss man schon viele Karmapunkte gesammelt haben, damit einem die Götter den Wagen an der Kuh vorbeilenken. Wenn in
Indien einer eine Kuh anfährt, hat er ein Problem. Nicht so ein Problem, wie einen Punkt in Flensburg, wo er danach ein bisschen mehr aufpassen muss, wie schnell er fährt. Nein, ein richtiges
Problem. Ein Problem, das sein ganzes Leben lang ein Problem bleibt. Für Hindus gelten Kühe als unantastbar. Das hat verschiedene Hintergründe. In manchen hinduistischen Glaubensrichtungen gilt
die Kuh als Inkarnation eines Gottes und ist somit heilig. Für andere sind die religiösen Hintergründe nicht ganz so wichtig, sondern eher die kulturellen, denn die Kuh wird seit jeher als
wichtigstes Nutztier angesehen. Wer eine Kuh besitzt, kann überleben, denn sie liefert Milch als Sattmacher, verwertet den Müll und pupst dafür hochwertigen Dünger für die Felder oder
hochwertiges Brennmaterial für den Backofen aus, man kann aus dem Fell Decken und Matten weben, sie nehmen Arbeit ab beim Felder-Pflügen, … Also ist es in ihren Augen schiere Dummheit, eine Kuh
zu töten.
Wenn eine Kuh auf der Straße steht, auf der du fahren möchtest und auf dem Seitenstreifen läuft ein Mann, hast du zwei Optionen: entweder du überfährst die Kuh oder du überfährst den Mann. Ich habe mehrere Reiseleiter in Indien gefragt, was sie tun würden. Alle sagten wie aus der Pistole geschossen, sie überführen den Mann. Und laut ihnen würden alle Hindus auch im Schockmoment genauso reagieren. Du siehst eine Kuh auf der Straße – du reißt das Steuer in die andere Richtung, egal was dort ist. Die Karmapunkte, die du gewinnst, weil du die Kuh hast leben lassen, überwiegen die Karmapunkte, die du verlierst, weil du einen Mann umgefahren hast. Abgesehen von den Karmapunkten umgeht man mit dem Umfahren des Mannes sehr viele Schwierigkeiten. Fährt man einen Mann um, kommt die Polizei, brummt dir eine Geldstrafe auf und steckt dich (wenns blöd läuft) ins Gefängnis. Du betest für die Hinterbliebenen und damit hat sich die Sache. Wenn du Glück hast (was beim indischen Strafvollzug wohl sehr wahrscheinlich ist), zieht sich der bürokratische Wahnsinn so lange hin, dass du lange tot bist, bis das Strafmaß verkündet wird, und deine Urenkel können sich um das Problem kümmern. Ist zwar nicht toll für dein Karma, aber bis zu deinem Tod hast du ja genug für die Hinterbliebenen des Mannes gebetet, dass du vielleicht nicht als Blattlaus wiedergeboren werden musst.
Die Kühe, die auf der Straße und in den Städten rumschlendern, gehören alle jemandem. Sie haben ein Zuhause und werden morgens gefüttert. Sonderlich viel Milch geben sie nicht und wenn du ein
Feld hast, was vielleicht diese Saison nicht ertragreich ist, brauchst du keine Kuh zum Pflügen und entsprechend gibt es wenig Gewinn. Kein Geld heißt kein Futter für die Kuh. Also werden sie nur
morgens gefüttert, dann werden die Tore aufgemacht und die Kühe versorgen sich den Tag über selbst und kommen abends zurück. Markiert sind die Kühe nicht, denn sie wissen ja, wo sie herkommen und
sind sehr standorttreu.
Fährt man eine Kuh um, fängt man sinnvollerweise noch am Straßenrand an zu beten. Die Polizei kommt, brummt dir eine Geldstrafe auf und überlässt dich deinem Schicksal. Im Schnitt kommen 20
Bauern zu dir, die alle behaupten, du hättest ihre Kuh umgefahren. Sie können nicht beweisen, dass es ihre Kuh ist, denn sie ist ja nicht markiert und zu ihrem Hof zurücklaufen kann sie so tot ja
auch nicht mehr. Du kannst aber auch nicht beweisen, dass es nicht ihre Kuh ist. Also bezahlst du, damit du die rachsüchtigen Bauern vom Hals hast. Und du bezahlst wieder, wenn der nächste kommt
und sagt, es wäre seine Kuh. Sobald ein armer Bauer hört, dass eine Kuh umgefahren wurde, kann man sicher sein, dass er sofort angerannt kommt, um seinen Schadensersatz abzuholen, egal ob seine
Kuh oder nicht
Um den Rest Würde zu retten, den die Kuh noch hat, lässt du sie von den Behörden abholen und bezahlst für den würdevollen Abtransport. Du lässt die Kuh von den Behörden dahin bringen, wo die Kühe
in den Kuhhimmel befördert werden. Ein Priester kommt, der für deine und der Kuh ihre Seele betet und du bezahlst dafür Opfergaben und Bestattungsgebühren. Du zahlst dafür, dass an der Stelle des
Unglücks ein kleiner Straßentempel aufgebaut wird, den du regelmäßig auf eigene Kosten mit Blumen und Opfergaben bestückst. Du reist auf eigene Kosten durch die Lande, um in möglichst vielen
Tempeln für die Seele der Kuh zu beten und Karmapunkte bei deinen Göttern zu sammeln.
Und gerade wenn du denkst, dass du deine Schuld beglichen hast, kommt der nächste rachsüchtige Bauer und erklärt dir, dass es wirklich seine Kuh war…
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Sonja (Mittwoch, 21 März 2018 08:33)
Immer wieder erstaunlich, was anderswo Sitte ist. Danke für die schönen Bilder!
Papa (Mittwoch, 21 März 2018 10:56)
Man soll vor'm Überholen hupen, damit der Fahrer weiß, dass er jetzt vielleicht lieber nicht zur Seite schwenken sollte. Deswegen steht's hinten an den LKWs dran. Ob's aber tatsächlich die Verkehrssicherheit fördert?
Unfallopfer (Sonntag, 31 Dezember 2023 12:46)
Unser Fahrer hat heute Morgen eine Kuh ins Jenseits befördert!
Gott sei Dank konnte er noch 4 Kilometer weiterfahren und wir uns in weiteres Taxi retten.
Indien hat's in sich.
Gutes Neues Jahr!