Tage zählen

Ohne die ganzen Kinder an Bord würde man meinen, wir hätten gar nix mehr zu tun. Leider stimmt das nicht so, denn unsere Route hat sich leicht geändert und damit kamen ganz neue Stressdimensionen auf uns zu. Korsika im Herbst ist toll, wenn sich alles herbstlich bunt färbt (vor allem nachdem es jetzt wieder so viel geregnet hatte), aber den Wind werden wir nicht vermissen und wir wissen ziemlich genau, wieso wir Ajaccio nicht mehr anfahren.

fühle mich leicht beobachtet...
fühle mich leicht beobachtet...

Ab September dreht der Wind vor der korsischen Küste und pustet direkt in den Hafen. Für uns natürlich sehr suboptimal und wir haben es öfters mal zu spüren bekommen. Die Straße von Bonifacio ist diese kleine Meerenge zwischen Korsika und Sardinien und jede Woche beim Ausflaufen hat es für zwei, drei Stündchen schon ziemlich spürbar gewackelt abends. Aber die letzten beiden Anläufe im Oktober waren dann alles andere als gemütlich: am Seetag von Palma aus war noch alles peachy und sobald wir auch nur irgendwie in die Nähe Korsikas kamen, ging die Post ab an Bord. Obwohl wir so ein großes Schiff sind, kann es doch ganz ordentlich wackeln und wenn es mal knallt, dann knallt es richtig. Das Schiff war am Nachmittag wie ausgestorben und bei beiden letzten Anläufen hat unser Käptn beschlossen, volle Kraft voraus zu geben und auf voller Geschwindigkeit durchzubrettern, damit wir frühzeitig in Korsika sind und die schlimme Nacht auf See vermeiden. Also waren unsere beiden letzten Male in Korsika tatsächlich over-night-stays, also im Hafen über Nacht.

overnight in Ajaccio
overnight in Ajaccio

Der Sturm war trotzdem noch übel, selbst wenn man an Land war und es ging einiges zu Bruch in Ajaccios Straßen. Aber für die Crew ist so ein over-night natürlich grandios, vor allem, wenn man so lang keinen mehr hatte. Und für die Scouts und Biker heißt over-night immer absolute Völlerei in einer der Pizzerien in der Altstadt. Ach, wie herrlich, ich sags euch! Und vor allem kann man den Gästen ausweichen, weil man ausnahmsweise so viel Zeit hat wie man will und somit genug Zeit, sich auch mal etwas weiter in die kleinen Gassen zurückzuziehen.
Korsika wurde also dann vom Routenplan gestrichen und ersetzt mit Marseille in Südfrankreich. Wie groß war der Schock, als wir merkten, dass wir auf dem Weg von Palma nach Civitavecchia immer noch durch die Straße von Bonifacio müssen. Naja, aber auch das geht rum und mittlerweile ist der neue alte Kapitän wieder an Bord, und der fährt lieber südlich um Sardinien rum und macht dafür ein bisschen schneller. Also haben wir unser schönes ruhiges Mittelmeer wieder, die Sonne scheint und der Wind windet und der Regen bleibt, wo wir ihn am liebsten haben: in den Wolken, die wir kaum je zu Gesicht bekommen.

ein letztes Mal schönes Wetter in Ajaccio
ein letztes Mal schönes Wetter in Ajaccio

Klingt zu schön um wahr zu sein? Stimmt. Der Winter hat Einzug gehalten am Mittelmeer und das ist kein Spaß, wenn man bedenkt, dass das dickste was wir an Uniform besitzen eine winddichte Softshelljacke und unsere normalen langen Ausflugshosen sind. Also war Shoppen angesagt, denn unsere dicken Jacken sind zwar bestellt, erreichen die Perla aber voraussichtlich erst im Januar. Thermo-Leggins, dicke Socken, Handschuhe, Schals – ein ewig langer Einkaufszettel wurde geschrieben und die Kollegen, die viel Zeit in Florenz oder Rom hatten, wurden shoppen geschickt.
Aber wozu ist man denn wieder zu Hause eingezogen, wenn nicht, damit Mama und Papa die Winterjacke nach Palma schicken können? Ein Lichtblick ist also in Sicht.

Crew-Essen im Gästerestaurant
Crew-Essen im Gästerestaurant

Unser neuer Hafen ist Marseille. Over-night und das auch noch planmäßig. Wie haben wir uns gefreut! Und wie schnell war die Freude verflogen, als wir von den knapp 9 Kilometern hörten, die unser Liegeplatz von der Innenstadt entfernt liegt! Zu allem Verdruss bieten wir auch noch einen Shuttle an, den wir bis spätabends und den gesamten Tag über betreuen müssen. Wir stehen also die meiste Zeit in Marseille in der Gegend rum und verkaufen an Bord Shuttletickets im Durchzug auf Deck 3 (selbst ohne das Schiff zu verlassen brauchen wir da die dicken Jacken) oder sammeln Shuttletickets ein im Wind vor dem Terminal oder an einer dunklen Straßenecke in Downtown Marseille.
Marseille ist die zweitgrößte Stadt Frankreichs und gilt als gefährlichste Stadt Europas. Eigentlich ist die Innenstadt ganz schön und man fühlt sich auch nicht unwohl, außer man hält sich im Gebiet des neuen Hafens, des alten Hafens oder der Haupteinkaufsstraßen auf. Also genau, wo wir mit dem Shuttle stehen. Weil es so gefährlich ist und unser ganzes Team aus Mädels besteht, stehen wir abends nur zu zweit am Shuttle und ein Koordinator der Agentur ist dabei. Alle 20 Minuten kommt ein Mann mit Schlagstock auf einem Motorrad vorbei und schaut, ob alles in Ordnung ist. Unsere Rucksäcke dürfen wir nicht vom Rücken nehmen. Unsere Kameras lassen wir an Bord. Unsere Handys und Geldbeutel tragen wir direkt am Körper.

Dodo und Alwine ist es draußen auch zu kalt und jetzt flitzen sie immer übers Schiff
Dodo und Alwine ist es draußen auch zu kalt und jetzt flitzen sie immer übers Schiff

Ausflüge gibt es in Marseille nur sechs, davon gehen vier ins Umland. Durch die knapp 24 Stunden Shuttle-Betreuung können jede Woche nur drei von uns auf Ausflug und wir haben so auf unserer 7-Tages-Route vier aufeinanderfolgende Tage mit Shuttlebussen. Und wir hatten uns auf Marseille gefreut…naja.
Wir haben eine neue Chefin bekommen, die sehr viel spendabler ist als die alte und wenn wir halb erfroren von der Pier kommen, gibt sie uns erstmal eine heiße Schoki aus, damit wir wieder auf die Beine kommen. Die Hälfte des Teams ist am röcheln und husten und krächzen.

 

Ex-Scouts Isi und Daniel sind diese Woche an Bord zu Besuch und ich darf fast jeden Abend mit ihnen im Gästebereich essen gehen. Das ist natürlich mal eine willkommene Abwechslung vom ewig gleichen Bordalltag und ich fürchte schon ein bisschen den Tag, wenn sie wieder abreisen. Aber Post hab ich bekommen und die versüßt mir jeden Samstag gewaltig – vor allem weil die anderen Kollegen fast nie Post kriegen. An dieser Stelle also ein herzliches Dankeschön an alle, deren Karten und Briefe die Wand über meinem Bett in eine Kollage aus tollen Bildern und Urlaubsgedanken verwandelt haben!

Wahnsinn!
Wahnsinn!

In Rom durfte ich tatsächlich inzwischen ins Kolosseum. Wirklich beeindruckend wenn man davor steht und sich überlegt, was hier alles über die Jahrhunderte und Jahrtausende passiert ist. Ganz original ist es natürlich nicht mehr, einige Teile der Außenmauer wurden renoviert oder mit Stahlträgern verstärkt, aber allein die Tatsache, dass dieses Ding da seit fast 2.000 Jahren steht, ist unglaublich. Drinnen kann man auf mehreren Ebenen rausschauen über die Stadt und rein in die Arena. Das Wort „Arena“ kommt übrigens vom lateinischen Wort für Sand, denn der Boden war komplett mit Sand ausgestreut, damit das viele vergossene Blut aufgesaugt werden konnte. Gladiatorenkämpfe gab es übrigens kaum – die Gladiatoren waren wie unsere Fußballer heute und wer wollte solche Helden schon tot sehen? Die Gladiatoren kämpften also gegen wilde Tiere (je exotischer, desto besser) oder gegen zum Tode Verurteilte, die dann von vornherein praktisch keine Chance hatten zu überleben. Wenn doch mal einer von ihnen überlebte, entschied der Daumen des in der Gesellschaft höchsten Anwesenden über sein Schicksal, und weil die Römer ihre brutalen Spiele liebten, brachte es den Verurteilten kaum jemals beim Kampf zu überleben, weil es danach eh brutal zu Ende gebracht wurde. Vom Sandboden sieht man heute nichts mehr, dafür aber das, was unterirdisch alles angelegt wurde: Trainingsräume, Umkleideräume, Gefängniszellen, Tierkäfige und natürlich die Gänge, die alles so miteinander verbanden, dass Tiere sich nicht in die Quere kamen und die Gefangenen nicht in der Nähe die Gladiatoren kamen, bis sie es tatsächlich sollten.

unter der Arena
unter der Arena

80 Eingänge hat das Kolosseum im Erdgeschoss, von denen aus man zu allen Sitzplätzen auf allen Ebenen kam. Noch heute werden Stadien nach dem Vorbild des Kolosseums gebaut: im Notfall kann man das Gebäude in 15 Minuten komplett füllen und 10 Minuten komplett evakuieren, egal wie viele tausend Menschen drin sind. Beeindruckend. Damit jeder Besucher seinen Platz fand, gab es „Tickets“ aus Holz- oder Tonplättchen, auf denen die Nummer des Eingangs und die Nummer des Sitzplatzes geschrieben waren. Die Tickets kosteten nichts, aber wenn es keine mehr gab, gab es halt keine mehr und die Arena war voll.
Heute sind die Eingänge alle noch da und an ein paar von ihnen sieht man die römische Nummerierung eingeritzt, wie es früher aussah. So richtig vorstellen kann ich es mir immer noch nicht, denn ursprünglich war das gesamte Kolosseum verkleidet mit weißem Marmor. Der wurde dann aber zum Bau der Neustadt gebraucht und von den alten Gemäuern abgeschlagen. Die Bronzebolzen und –klammern, die den Marmor auf dem Sandstein gehalten haben, haben große Löcher hinterlassen, als sie rausgenommen und zu Waffen geschmolzen wurden.

Das Kolosseum zu sehen war richtig cool und jetzt habe ich endgültig das Gefühl, dass es mir reicht auf dieser Route. Petersdom, Sixtinische Kapelle und Forum Romanum fehlen mir zwar noch und ich will sicher nochmal für ein paar Tage nach Rom kommen, aber eigentlich ist es jetzt genug mit den ewigen Autobahnfahrten.
Einen Monat noch (am Abreißkalender hängen noch 31 Schokobons), dann geht es endlich heim, diese unglaublich eintönige Route ist Vergangenheit und ich kann schon von den nächsten Abenteuern träumen.

 

 

 


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