Greifswald. Ein Krimi.

Die Entscheidung, einen Job am anderen Ende der Welt anzunehmen, fiel mir relativ leicht. Vor allem, da es ja nicht mal das andere Ende der Welt ist, sondern nur das andere Ende der Republik. Ich glaube, ich kann ohne das Land zu verlassen nicht wirklich viel weiter von zu Hause weg als Greifswald. Hört sich ja fast so an, als wollte ich bloß schnell aus dem Süden weg? Nein, aber wenn sich so ein schöner neuer Job ergibt, sage ich zu – und so sehr heimwehig war ich ja sowieso noch nie. Und Mama freut sich jetzt immer „Es hätte ja auch Australien werden können.“

Mit der Zusage für die neue Stelle in Greifswald ergab sich allen voran eine große Frage: Wo würde ich wohnen? Weil die Firma es schon gewöhnt ist, dass sie wirklich weit ab vom Schuss sind (des Personalleiters Worte beim Vorstellungsgespräch: „Und wieso wollen Sie freiwillig zu uns an den Arsch der Welt ziehen?“), haben sie mir direkt eine Übergangsunterkunft angeboten für den Fall, dass ich nicht sofort eine eigene Wohnung finden sollte. Es gibt eine WG, in der vor allem die Praktikanten untergebracht werden, die meist nur ein paar Monate bleiben, und für die erste Zeit schien mir das ziemlich perfekt. Trotzdem sollten natürlich so schnell wie möglich die eigenen vier Wände her und so machte ich mich drei Wochen nach meinem Vorstellungsgespräch mal wieder auf in die Einöde. Mit dem Zug dauert die Fahrt übrigens mindestens acht Stunden, allerdings nur, wenn man vier bis sechs Mal umsteigen möchte. Für die Durchfahrer gibt es tatsächlich einen Zug, der komplett in einem Rutsch durchfährt, dabei nimmt man aus allen Ecken Deutschlands ein paar Bahnhöfe mit und braucht dafür grade mal zehneinhalb Stunden. Im Winter heißt das, dass man Sonnenaufgang, Mittagssonne und Sonnenuntergang vom gleichen Sitzplatz aus sehen kann, ist das nicht verrückt?

15. Dezember 2019, 11 Uhr früh. Den Termin zur Wohnungsbesichtigung hatte ich nur ein paar Stunden nach meiner Kontaktaufnahme mit dem Makler Herr K. erhalten und so machte ich mich in eisigem Wind und strömendem Regen zu Fuß auf den Weg ins Ostseeviertel. Klingt, als wäre die Ostsee nicht weit weg und in der Tat sind es nur etwa anderthalb Kilometer zur Dänischen Wieck, einer Art Bucht der Ostsee mit Deich und kleinem Strand und allem. Eigentlich sieht es eher aus wie ein See, denn gegenüber liegt eine Landzunge, die den Blick zur offenen See einschränkt.

15. Dezember 2019, 12 Uhr mittags. Nach eingehender Überlegung, Einholung von Drittmeinungen und Erwägung von Vor- und Nachteilen von Größe, Lage, Miete und Anbindung rief ich eine Stunde nach der Besichtigung Makler K. an und sagte zu. Die Wohnung war perfekt und keine der anderen hätte eine Chance dagegen gehabt. Die mündliche Zusage seinerseits erfolgte sofort am Telefon. (Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch die anderen beiden Wohnungen, die ich mir noch anschaute. Eine war auch ziemlich toll, nur leider mit einem Pizza-Lieferdienst an der Ecke, der jeden Abend von 18 bis 23 Uhr direkt vor dem Schlafzimmerfenster Gas gebe, so der Mieter. Aufgrund des frühesten Bezugstermins im Sommer sagte ich ab. Die andere war in einem Viertel, das eher an ein Plattenbau-Getto erinnerte, und in einem Haus, das zu 90 Prozent aus Sozialwohnungen besteht. Ich sagte ab.)

20. Dezember 2019. Der Plan für einen reibungslosen Umzug steht. Papa und ich fahren zu meinem Lagerraum, wo ich vor vier Jahren „für ein halbes Jahr bei AIDA“ alle meine Möbel und Kartons eingelagert habe. Ich überlege, was ich wohl alles Unerwartetes in den Kartons finden werde. Wir packen Papas Werkzeug und einen Karton mit unseren Schlafsäcken und Luftmatratzen ins Lager. Ich beauftrage eine örtliche Spedition, den Transport meiner Sachen nach Greifswald am 9. Januar durchzuführen, sodass alles am Tag drauf dort sein würde. Wir buchen Zugtickets, damit Mama und ich sofort hin fahren und Papa nach der Beaufsichtigung des Abtransports am nächsten Tag hinterher kommt. Wir buchen ein Hotel für die Nacht, in der wir noch nicht in die Wohnung können.

22. Dezember 2019. Makler K. bestätigt mir am Telefon, dass eine Schlüsselübergabe am 10. Januar kein Problem sei und dass er den Mietvertrag heute in die Post gebe. Vom Hausverwalter Herrn R. bekomme ich die Zahlungsaufforderung der Kaution bis zum 10. Januar. Es läuft.

27. Dezember 2019, 10 Uhr früh. Es ist drei Tage vor meinem Urlaub auf den Kanaren. Es ist außerdem der vorletzte Werktag vor einer gefühlten Batterie an Feier- und Sonntagen. Ein Vertrag war bis heute nicht in der Post. Ich versuche, Verwalter R. zu erreichen, doch die nette Dame am Empfang der Hausverwaltung erklärt, dass alle Sachbearbeiter bis einschließlich 6. Januar im Urlaub sind. Ich schreibe eine Mail an Verwalter R. und Makler K. und erkläre, dass es mir unter diesen Umständen nicht möglich sei, den Vertrag pünktlich vor dem 1. Januar unterschrieben zu ihnen schicken zu können. Außerdem gebe ich bekannt, dass ich die Kaution erst bezahle, wenn mir der Vertrag vorliegt, also vermutlich nicht bis zur angegebenen Frist. Ich bitte um eine Rückmeldung inklusive Lösungsvorschlag.

27. Dezember 2019, 14 Uhr nachmittags. Makler K. ruft an. Er klingt aufgeregt. „Sie schreiben da vom
1. Januar“, sagt er. „Wieso? Die Wohnung wird doch erst zum 1. Februar frei.“ Stille. Schock. Was?!

 

 

 


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