Ich baue mir ein Boot

Naja, nicht ganz bauen. Aber ich höre den Lärm aus den Produktionshallen und das Piepen des Rückwärtsganges, wenn die LKW auf dem Hof rangieren, und rieche Plastik und Gummi wenn ich im Büro sitze. Ich arbeite im Marketing, habe also mit dem Bau unserer Boote nichts zu tun, außer vielleicht, dass meine Kollegen und ich Werbung machen, damit überhaupt jemand ein Boot bestellt. Ohne uns würde auf dem Gelände also gar nichts gebaut werden.

Statt Homeoffice
Statt Homeoffice

Sechs ganze Wochen war ich in der Firma. Da wurden mir die Basics beigebracht, was wir da überhaupt so machen, wer für was zuständig ist (was ich allerdings bis heute noch nicht so ganz verstanden habe) und was meine Aufgaben sein werden. Sechs Wochen, wo ich vor allem gelernt habe, dass man Glück haben muss, um Punkt 12 eine freie Mikrowelle in der Kaffeeküche zu finden, und lieber bis kurz nach mit dem Mittagessen wartet. Sechs Wochen, wo ich merkte, dass Josi wohl nicht nur eine Kollegin ist, sondern in der kurzen Zeit schon eine richtige Freundin geworden ist. Sechs Wochen ganz entspannt ohne Messen, um erstmal anzukommen und zu sehen, was was ist.
Sechs Wochen. Dann kam Corona.

Die einzige Möglichkeit, als Fußgänger in der Innenstadt über den Ryck zu kommen
Die einzige Möglichkeit, als Fußgänger in der Innenstadt über den Ryck zu kommen

Für unsere Firma hieß das, dass die Produktion zur Schatztruhe wurde. Da liegt das wahre Geld und da sind diejenigen, die auf gar keinen Fall ausfallen dürfen. Also wurde die Produktion zum Sperrgebiet erklärt und nur noch die Kollegen, die in der Produktion arbeiten, durften die Hallen und das Firmengelände betreten. Alle anderen wurden ins Homeoffice verbannt und da saßen wir fest. Für die nächsten 15 Wochen.

Was war ich froh, dass ich noch die letzten Kartons zum Auspacken und Bilder zum Aufhängen hatte, sodass wenigstens die Mittagspause ein bisschen aufregend wurde. Denn mit Homeoffice und Maskenpflicht kamen gleichzeitig alle paar Tage neue Absagen internationaler Bootsmessen eingetrudelt. Zu tun hatte ich in meinem eigentlichen Job dann also irgendwie plötzlich gar nichts mehr und mit jeder weiteren Absage und Verschiebung schwand die Hoffnung, bald mal wirklich eine Messe mitzuerleben.

Museumshafen in der Innenstadt
Museumshafen in der Innenstadt

Weil ich ja ein netter Mensch bin und das Nichtstun wirklich nicht soo super ist auf Dauer, habe ich meinen Kollegen meine Unterstützung angeboten und so wurde schnell die Idee geboren „Wir machen eine virtuelle Messe!“ Wenn die Kunden schon nicht zu uns kommen können, dann kommen wir eben einfach zu den Kunden. Um das Konzept zu verstehen, hier mal kurz, wie das normalerweise vor und auf so einer Messe abläuft. Unsere Firma baut Booten unter sechs verschiedenen Markennamen. Die Segel- und Motorkatamarane (also Boote mit zwei Rümpfen) sind zu breit, um über unseren Fluss Ryck und durch die Wiecker Zugbrücke zu passen, also werden sie an der französischen Atlantikküste gebaut. Hier in Greifswald werden drei Segelboot-Marken gebaut (eine eher fürs sportliche Regatta-Segeln, eine fürs entspannte „richtige“ Segeln, eine für Familien mit viel Platz und relativ gutem Motor) und zwei Motorboot-Marken (eine fürs entspannte Familien-Cruisen, eine für den typischen Mann in der Midlife-Crisis, der neben seinem Lamborghini noch was schickeres zum Angeben vor den mallorquinischen Mädels braucht). Alle unsere Marken werden auf Messen ausgestellt, um Kunden zu gewinnen.

der tägliche Ausblick beim Weg zur Arbeit (aber nein, ich fahre mit dem Rad, nicht mit dem Boot)
der tägliche Ausblick beim Weg zur Arbeit (aber nein, ich fahre mit dem Rad, nicht mit dem Boot)

Es gibt Indoor- und Inwater-Messen, also wird entweder in Messehallen ausgestellt wie bei der „Boot“ in Düsseldorf, oder in einem schicken Yachthafen irgendwo. Es gibt eher regionale Messen, wo vor allem Einheimische oder wenigstens inländische Interessenten vorbei kommen, und es gibt internationale Messen, wo sich die gesamte Branche jährlich zum gegenseitigen Ausspionieren und Lästern übereinander trifft. Wir haben um die 100 Messen, auf denen wir jedes Jahr ausstellen. Für mich und meinen Job wirklich relevant sind aber nur die vier größten, in Düsseldorf, Cannes (Südfrankreich), Monaco und Mallorca. Auf den kleineren Messen stellen unsere regionalen Händler aus, die im Endeffekt von uns ein Boot kaufen, was sie dann an den Kunden weiterverkaufen. Wir geben ein bisschen Geld für den Messeauftritt dazu, aber ansonsten machen die Händler selbst die Planung, Anmeldung und Durchführung der Messe. Bei den großen bin ich üblicherweise vor Ort und wir melden uns als große Firma an, unsere Händler kommen als Unteraussteller zu uns an die Messestände.

Als potenzieller Kunde kommt man auf die Messe und hat im Idealfall schon eine grobe Idee, in welche Richtung man sich mit seinem neuen Boot orientieren will. Man weiß definitiv, ob Motor- oder Segelboot, und üblicherweise hat man schon Präferenzen, was die Marke angeht. Dann macht man im Voraus Termine mit einem Händler am Stand aus, der zeigt einem das Boot oder die Boote, die einen interessieren, und wenn es gut läuft, unterschreibt man noch auf der Messe einen Kaufvertrag. Dann wird das Boot bei uns in Greifswald gebaut, hierzu werden ein vorgefertigter Rumpf und ein vorgefertigtes Deck aufeinander gesetzt (oder „verheiratet“) und der Raum dazwischen („unter Deck“) wird so ausgestattet, wie es der künftige Eigner gerne hätte. Ob eine oder drei Kabinen, ein oder mehrere Bäder, eine Küche mit Mikrowelle oder Tiefkühlschrank oder Geschirrspüler oder allem, eine Waschmaschine, ein Arbeitszimmer, eine Crewkabine, oder oder oder … eingebaut werden, liegt hierbei komplett beim künftigen Eigner und seinen Vorlieben, genauso wie alle verbauten Materialien wie Möbelholz, Polsterfarbe, Bodenbelag, Rumpf-Anstrich, …
Die Teile wandern dann durch unsere Produktionshallen, bis schließlich ein einigermaßen fertiges Boot hinten raus kommt, das wird auf Rollen gelegt und von einem Traktor in den Hafen gezogen und dort ins Wasser gelassen. Ein Mast wird drauf gesetzt (wenn denn ein Mast nötig ist) und dann gibt es ein paar Probefahrten und schließlich wird das Boot entweder auf einen LKW geladen und über Land zum künftigen Eigner gefahren, oder der Eigner kommt vorbei und holt es direkt auf dem Wasserweg nach Hause.

Mit diesem Kran werden die Masten auf die Boote gesetzt
Mit diesem Kran werden die Masten auf die Boote gesetzt

Um den Prozess des Boot-auf-der-Messe-Anschauens nicht ganz zu verlieren, beschlossen wir also, virtuelle Bootsrundgänge zu filmen. Und wer könnte das besser, als die ganz neue Mitarbeiterin, die zufällig Kamera-, Präsentations- und Verkaufs-Erfahrung hat und auch noch fließend Englisch spricht? Dachten sie sich und schwupps, wurde ich zum Filmstar.

Naja, noch nicht ganz. Denn zuerst war gaaanz viel Vorbereitung nötig. Eigentlich hatten wir geplant, dass unsere Kollegen, die an der Quelle sitzen und wirklich jede Ecke unserer Boote kennen, uns für jedes Modell ein kleines Drehbuch schreiben, damit wir wissen, was wir auf jeden Fall abbilden müssen und was besonders an genau diesem Modell ist. Insgesamt haben wir 42 verschiedene Modelle über alle Marken hinweg, davon sind fünf in Frankreich, bleiben also noch 37, die wir filmen sollten – und vor allem als ganz neue Mitarbeiterin hatte ich ja noch nicht wirklich eine Ahnung, was die einzelnen Marken eigentlich voneinander unterscheidet. Leider wurde das mit den Drehbüchern dann doch nichts und wir mussten improvisieren.

Fertig für den Abtransport - dafür wird der Mast wieder abgenommen
Fertig für den Abtransport - dafür wird der Mast wieder abgenommen

Als Kamerafrau wurde mir Josi zugeteilt und so konnten wir über die ersten Wochen das Homeoffice verlassen und gemeinsam bei herrlichstem Wetter im Yachthafen über die Boote hüpfen und Rundgänge drehen. Weil es für so ein Video im Idealfall Sonne und kein Wind hat, suchten wir uns also auch nur die besten Tage aus für unsere Dreharbeiten und hatten richtig viel Spaß dabei. Das lief immer ähnlich ab: erstmal suchten wir das Boot, denn der Yachthafen verteilt sich über mehrere Stege und manchmal konnte uns keiner so ganz genau sagen, wo denn das Boot des Tages so genau liegt. Mit den Schiebetüren hatten wir immer unsere Probleme, also brauchten wir immer mehrere Minuten, um überhaupt die Türen aufzukriegen. Dann ging es auf Erkundungstour, welche Besonderheiten wir auf Anhieb entdecken konnten. Da gibt es die coolsten Sachen wie ausziehbare Mülleimer, die in der Wand verschwinden, oder Weinregale, die im Tisch versteckt sind, oder kleine Klappen im Tisch, die die perfekte Größe für eine Tüte Chips haben, oder Fernseher, die im Sideboard versenkt werden. Diese Designer sind Meister im Finden von platzsparenden Möglichkeiten beim Innenausbau unserer Boote, echt faszinierend. Manchmal fanden wir Klappen oder Schalter, die wir gar nicht zuordnen konnten, also wurde rumtelefoniert, bis uns das jemand erklären konnte. Manchmal fanden wir auch Dinge nicht, von denen wir wussten, dass sie da sind, zum Beispiel den Landstrom-Schalter, der natürlich super wichtig ist, wenn wir alles schön ausleuchten wollen.

schönster Arbeitsplatz der Stadt im Sommer
schönster Arbeitsplatz der Stadt im Sommer

Ich zog mir alle Broschüren und Preislisten aufs Handy und bevor wir mit dem Dreh anfingen, las ich mich noch mal eben ein, auf welchem Boot wir jetzt eigentlich sind und was das genau ausmacht. Dann ist so ein Boot ja auch üblicherweise nicht leer, wenn es noch nicht dem Eigner übergeben wurde. Da liegen Nutzeranleitungen rum und Lappen und Putzzeug und zusätzliche Segel in riesigen schweren Säcken, manchmal sind die Matratzen noch unschön in Folie eingepackt. Also mussten wir erstmal aufräumen, Fenster putzen, Betten beziehen und ein bisschen dekorieren. Der Dreh für ein Boot dauerte mit allem Drum und Dran dann immer so um die vier Stunden, manchmal auch länger.

Die Segelboote waren eine echt Herausforderung für mich, weil ich eben kein Segler bin und keine Ahnung von Schot und Leine und Winsch und Fock und Gennaker habe. Wie gut, dass Josi dabei war und mir alles erklären konnte, dann noch übersetzen und im fertigen Video wirkt es doch einigermaßen, als wisse ich wovon ich spreche. Dass ich einige Passagen ein paar Minuten vorher auswendig lernen musste, merkt man mir glücklicherweise nicht an und die Videos kamen bei Kunden und potenziellen Kunden gleichermaßen gut an. Und so wurde ich also zum Youtube-Star – nicht, dass man meinen Namen kennen würde, aber mit bis zu 6.200 Aufrufen pro Video fühle ich mich schon ein bisschen berühmt.

Reiher Markus war immer sehr an den Dreharbeiten interessiert
Reiher Markus war immer sehr an den Dreharbeiten interessiert

Leider konnten wir nur 12 Videos bisher drehen, denn eine der Haupt-Auswirkungen von Corona und Messeausfall war für uns der Rückgang in neuen Aufträgen. Und wenn keine neuen Boote aus der Produktion kommen, kann ich natürlich auch keinen Rundgang darüber machen. Schade, denn das hat richtig viel Spaß gemacht. Aber wenn ich das Wetter im Moment anschaue, bin ich auch ein bisschen froh, dass ich nicht mehr stundenlang im Hafen rumhängen muss, denn in dünnen Bootsschuhen oder sockig wird es auf so einem unbeheizten Boot nicht nur auf dem Außendeck ziemlich schnell ziemlich ungemütlich. Da jetzt aber (bestimmt NUR wegen unserer tollen Videos) doch wieder mehr Aufträge rein kommen, könnte ich Glück haben und im Herbst nochmal vor die Kamera treten.

Witzigerweise haben wir zu Beginn von Corona plötzlich einen riesigen Anstieg an Aufträgen verzeichnen können, denn wenn man nicht mehr groß verreisen darf, muss man halt auf See Urlaub machen, und ist dabei auch noch so schön isoliert von der Welt. Eigentlich ja der beste Platz für Quarantäne. Blöd nur, dass auch unsere Produktionshallen irgendwann einfach voll sind und wir nicht beliebig viele Boote gleichzeitig bauen können. Und Leute fragten dann natürlich an im Stil von „Ich brauche sofort ein Boot, das muss in vier Wochen fertig sein.“ Tja, Pech. Also merke: wer ein Boot kaufen will, sollte ein paar Monate Zeit mitbringen, denn so ein Boot baut sich eben nicht innerhalb von ein paar Tagen.

Abendstimmung in Wieck
Abendstimmung in Wieck

Für mich hatte Corona so jedenfalls einen netten Nebeneffekt: ich kenne mich jetzt richtig gut aus, was unsere verschiedenen Marken angeht. Wenn auf der Messe ein völlig Ahnungsloser zu mir kommen würde, könnte ich ihn mit nur ein paar Fragen genau einer unserer Marke zuordnen, und das ist richtig viel Wert. So viele Boote von innen gesehen zu haben und das ganz ohne Messen, ist auch etwas besonderes. Andere neue Kollegen warten wochen- und monatelang darauf, mal an Bord gehen zu dürfen. Cooles Erlebnis auf jeden Fall und einmal mehr bin ich dankbar dafür, dass meine Eltern mir so früh Englisch beigebracht haben und dass AIDA mich gezwungen hat, vor zweitausend Gästen auf der Bühne oder live vor der Kamera zu stehen und Dinge zu verkaufen, von denen ich keine Ahnung hatte.

 

PS: Wer sich mal über so eins unserer Boote führen lassen will, schaue zum Beispiel hier für eins meiner Lieblings-Motorboote.

 

PPS: Danke an Ruth für das freundliche Zurverfügungstellen ihrer vielen Greifswald-Fotos, die einen Großteil der heutigen Galerie ausmachen. Weil alles jetzt so ein normaler Anblick für mich ist, habe ich noch nie dran gedacht, Fotos im Hafen zu machen...

 

 

 


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Kommentare: 3
  • #1

    Michael aus Fulda (Freitag, 11 September 2020 18:49)

    Ein interessanter Bericht.
    Ich würde gern ein Video ansehen. Wo finde ich es bei YouTube? Kannst Du einen Link einstellen?

  • #2

    Tanja (Freitag, 11 September 2020 22:55)

    https://www.youtube.com/watch?v=35iGkDdevIk&list=PLEJfbsTgxh4OH-i4KgGUXhTwc4NWv1YXu

  • #3

    Michael aus Fulda (Dienstag, 15 September 2020 18:23)

    Nachdem ich das Video gesehen habe, möchte ich mit einem neuen Boot zu neuen Meeren fahren, so wie in dem Gedicht von Friedrich Nietzsche.

    Nach neuen Meeren

    Dorthin - will ich; und ich traue
    Mir fortan und meinem Griff.
    Offen liegt das Meer, ins Blaue
    Treibt mein Genueser Schiff.

    Alles glänzt mir neu und neuer,
    Mittag schläft auf Raum und Zeit -:
    Nur dein Auge - ungeheuer
    Blickt michs an, Unendlichkeit!