Schwarze Zeiten

Wenn man Briten erzählt, dass man Birmingham besucht, bekommt man relativ oft als Antwort „Oh, das tut mir Leid“ oder nur groß aufgerissene Augen und ein „Wieso?“ Es ist eben eine Industriestadt, entstanden aus der wichtigen Rolle, die es in der Metallverarbeitung spielte. Es soll eine der gefährlichsten Städte Großbritanniens sein – das haben wir aber erst nach unserem Aufenthalt rausgefunden, und wie es meistens so ist, bekommt man als Tourist davon nicht allzu viel mit wenn man sich nicht in zwielichtigen Vierteln rumtreibt.

Alt und neu in Birmingham
Alt und neu in Birmingham

Man sieht in der Stadt noch vereinzelt die Reste der Industriehallen und Schornsteine, aber vor allem am Stadtrand, wenn man den Kanälen weiter folgt. Die Innenstadt ist heute echt modern, aber irgendwie verwirrend, weil riesige Straßen mitten durchs Zentrum führen und alles in mehreren Ebenen angelegt ist. Neben uralten Kirchen sieht man supermoderne Einkaufszentren, mitten drin auf dem Hauptplatz gibt es im Sommer eine künstliche Wiese mit Liegestühlen und einer Leinwand, wo man Tennis und sonstigen Sport im Livestream verfolgen kann. Treffen tut man sich am „Bull“, dem Wappentier der Stadt. Da es aber mehrere gibt, muss man sich immer ein bisschen durchfragen und alle scheinen gleich verwirrt zu sein, wie man irgendwo hin kommt.

Streetart im Gay Quarter
Streetart im Gay Quarter

Es wird super viel gebaut in Brum (abgeleitet vom alten Stadtnamen Brummagem, und die Einwohner heißen Brummies), aber die Kreativen der Stadt tun ihr bestes, um alles ein bisschen schöner und bunter zu machen: an jeder Ecke sieht man wunderschöne Street Art, es scheint wenige Wandflächen im Zentrum zu geben, wo nicht jemand was cooles drauf gemacht hat. Im Gay Quarter ist alles in Regenbogenfarben bemalt oder riesige Drag-Gesichter schauen von den Wänden runter. In der alten Bird’s Custard Factory, wo der typische dickflüssige Vanillepudding früher produziert wurde, ist heute ein ganzes Viertel für Künstler und alternative Lebensart entstanden. 

Birmingham Westside
Birmingham Westside

Und wenn man in die andere Richtung unterwegs ist, erinnern die Neubaugebiete und Brücken entlang der Kanäle manchmal ein bisschen an Hamburg, bevor man dann an der Westside in ein süßes Stadtviertel kommt, wo heute Restaurants und Galerien direkt an der Kanalkante in alten Speicherhäusern sind.
Und auch der Botanische Garten ist einen Besuch wert – vor allem wenn man wie wir um die 30 Grad und brutzelnde Sonne hat. Dann doch lieber raus aus der Stadt und ein bisschen durch die wunderschönen Gärten schlendern.

wirklich ziemlich schwarz im Black Country
wirklich ziemlich schwarz im Black Country

Die von-ganz-früher-Freunde von Mama, Paul und Jenny, trafen wir natürlich auch, wenn man schon mal dort ist. Sie nahmen uns mit in ein Freilichtmuseum außerhalb. Das liegt im sogenannten Black Country. Hier in den West Midlands war die Kohleindustrie extrem wichtig seit Mitte des 18. Jahrhunderts, daher sah man überall hohe Schornsteine, aus denen schwarzer Rauch kam, außerdem war die Landschaft durch den Kohlestaub immer etwas schwarz gefärbt, daher liegt der Name nahe.
Zu Queen Victorias Zeiten war hier das wichtigste Industriegebiet des ganzen Landes und die meisten Eisen- und Kohleprodukte kamen von hier. Der Ausbau der schmalen Kanäle und der Narrowboats als Transportmittel wurden hier maßgeblich vorangetrieben.

Black Country Living Museum
Black Country Living Museum

Das Museum besteht aus einem kompletten Dorf, teilweise standen die Häuser wirklich hier, andere wurden aus der Umgebung hierher gebracht. Man schlappt also durch Straßen, wie sie mal tatsächlich im Black Country ausgesehen haben und macht im Prinzip eine kleine Zeitreise durch ein typisches Dorf zwischen 1850 und Mitte des 20. Jahrhunderts. Es gibt Geschäfte, wo man sich fühlt, als geht man tatsächlich grade Seife einkaufen. Die Angestellten reden wie früher und bieten Mini-Führungen oder -Erklärungen an. In der Schule kann man eine Schulstunde mitmachen, wir mussten das Alphabet rückwärts im Chor aufsagen und wer es nicht hinbekommen hat, hat eins mit dem Rohrstock über die Finger gekriegt.
Das ist ein ganz süßer Ort, leider war es so heiß, dass wir nicht alles anschauen konnten, weil wir so langsam voran kamen – und natürlich eine sehr lange Fish’n’Chips-Mittagspause im Schatten brauchten.

so sahen Narrowboats aus, bevor Touristen mit ihnen gegen Brücken fuhren
so sahen Narrowboats aus, bevor Touristen mit ihnen gegen Brücken fuhren

Wir machten eine kleine Tour im Kohlehafen mit, wo uns eine Frau erzählte, wie es früher so zuging, als mit den Narrowboats noch Kohle von A nach B transportiert wurde. Selbst Paul und Jenny, die seit Jahrzehnten in Birmingham wohnen, hatten teilweise Schwierigkeiten, der Erzählerin zu folgen – sie war offensichtlich aus der Region und sprach breitestes Black Country English. Es ist ein Dialekt, der nur um diesen Teil des Landes gesprochen wird und durch die Abgeschiedenheit vieler der kleinen Dörfer ziemlich wenig beeinflusst wurde von modernem Englisch. Stattdessen hat er sich einiges erhalten, was noch aus der englischen Sprache kommt, wie sie zwischen dem 11. und 17. Jahrhundert gesprochen wurde.
Obwohl Simon und ich beide dachten, wir seien fließend in Englisch, sind wir hier an unsere Grenzen gestoßen. Zum Beispiel wird „cut“ ausgesprochen wie „put“ und ist ein Synonym für die Kanäle – denn sie wurden ja in die Landschaft „geschnitten“. „Go“ klingt manchmal eher wie „goo“. Im Internet habe ich zum Beispiel „Ow b’ist gooin?“ oder „Am yow orroight?“ für „How are you?“ oder „Are you alright?“ gefunden. Wenn sie „baut“ gesagt hat, meinte sie ein Boot, und mit „Oss“ war ein Pferd („horse“) gemeint.

Wir hatten auf jeden Fall unseren Spaß und haben später gemerkt, dass sie gar nicht mal so krass gesprochen hat und es noch viel unverständlicher geht. Wir gingen zu einer weiteren kleinen Führung mit, mit der man ins Innere einer alten Kohlemine durfte, um zu lernen, wie es sich angefühlt hat, dort unten in stockfinsterer und lauter Umgebung den ganzen Tag zu schuften. Den älteren Herrn, der uns mit runter nahm, hatte dazu auch noch kaum Zähne über, und als er zwei Sätze gesprochen hatte, hat sich Jenny zu mir umgedreht mit großen Augen und geflüstert „whaaat?“
(Wen es interessiert: Bei Youtube gibt es Videos mit Hörproben und Wikipedia hat einen guten Artikel über den Dialekt mit einigen Beispielen – anscheinend sagen sie hier statt „yes“ auch eher „arr“, vielleicht sind es eigentlich gestrandete Piraten?)

So vorbereitet auf unverständliches Englisch konnten wir nun aber guten Gewissens weiter düsen zu den seltsamsten Briten, die ihre ganz eigene Sprache haben, die irgendwie so gar nichts mehr mit Englisch zu tun zu haben scheint: Wales.

 

 

 

 


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